„Der doppelte Weihnachtsmann“ © Ute Oswald

Jedes Jahr dasselbe: Wer macht den Weihnachtsmann? 

In meiner Familie gehört zu einer anständigen Bescherung ein Weihnachtsmann. Sie wissen schon, so einer mit einem roten Mantel und einem weißen Rauschebart, gerade so wie in der Coca-Cola-Werbung. Mollig, mit roten Bäckchen und einer wohltönenden tiefen Stimme. 

 

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Obwohl die älteren Enkelkinder, Kinder und Schwiegerkinder eigentlich nicht mehr an seine Existenz glauben, war es doch immer wieder schön, wenn er rechtzeitig mit seinem großen Sack erschien, die Kinder Gedichte aufsagen ließ, die Erwachsenen neckte und schließlich all die wunderschön verpackten Geschenke verteilte. Für mich stellte sich jedes Jahr wieder die Frage: „Wer macht den Weihnachtsmann?“ 

Ich ging alle Männer in meiner engsten Umgebung durch: Sohn und Schwiegersohn entfielen schon mal. Die durften bei der Bescherung nicht fehlen. Geradezu prädestiniert war Nachbar Krause mit seinem weißen Wildwuchs im Gesicht. Doch, es wäre auch zu schön gewesen, er war schon bei seinen eigenen Enkeln gebucht. In Frage kamen dann nur noch mein Bruder und Neffe. Mein Bruder hatte bereits einen hochdotierten Auftrag bei einer wohlsituierten skandinavischen Familie als schwedischer Weihnachtsmann. Blieb nur noch mein Neffe. Anruf. Schade, er hatte Spätdienst. Ja, dann würde die Bescherung zum ersten Mal ohne den Weihnachtsmann stattfinden. Mir tat meine kleine neunjährige Enkelin leid, die als einzige noch an diesen wundersamen bärtigen Gesellen glaubte. 

Ach, wir tun so, als ob er ganz eilig den Sack vor die Tür gestellt hat, weil er in diesem Jahr so viel zu tun hat, dachte ich. Das Ganze muss auch irgendwann mal ein Ende haben und im neuen Jahr werde ich ihr endlich die schonungslose Wahrheit sagen. 

Ansonsten sollte sich am Ablauf des Heiligen Abends nichts ändern. Erst Kaffee trinken, dann Spaziergang durch den Wald, Essen und zum Schluss die Bescherung. 

Die Geschenke ruhten in zwei Jutesäcken draußen am Kelleraufgang. Der Platz war bekannt in der Familie und jahrelang der Geheimtipp unter den jeweiligen Weihnachtsmännern. Dieses Mal würde ich die Säcke jedoch selber heimlich holen, wenn sich die Gelegenheit bot. 

Angesagt hatten sich Tochter und Sohn mit den jeweiligen Partnern und je drei Kindern. Ich hatte also einen Tisch für elf Personen gedeckt. 

 

Pünktlich um drei erschien meine Familie zum Kaffee. Jeder hatte ein hübsch verpacktes Paket mitgebracht und platzierte es unter dem bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Ich frohlockte und dachte an meine Jutesäcke, die als Überraschung zum Schluss ausgepackt werden sollten. 

Wir hatten das passende Wetter zum Spazierengehen. Es war kalt und es fielen tatsächlich ein paar Schneeflocken. Durchgefroren und doch guter Dinge kehrten wir aus dem Rantzauer Forst zurück. Alle freuten sich auf den Braten, dessen Duft durch die Räume zog. Ich hatte alles akribisch vorbereitet, so dass wir bald essen konnten.  

Während die Schüssel mit dem Rotkohl die Runde machte, klingelte es an der Tür. Ich überlegte, wer das denn sein könnte und schaute durch den Spion. Nichts zu sehen! Ich öffnete vorsichtig die Tür und da stand er leibhaftig – der Weihnachtsmann! Und siehe da – er hatte einen meiner Jutesäcke geschultert! Die tiefe Stimme fragte: „Wollen Sie mich nicht reinlassen?“ Ich beäugte ihn, konnte aber nicht erkennen, wer sich hinter dem roten Mantel mit der tief heruntergezogenen  Kapuze und dem weißen Rauschebart verbarg. Es musste jemand sein, der sich bei uns auskannte. Sonst hätte er ja nicht den Sack gefunden. Was für ein Glück, besonders für meine jüngste Enkelin, dass die Bescherung nun doch mit dem Weihnachtsmann stattfinden konnte. Bereitwillig ließ ich ihn eintreten und sagte ganz laut, so dass alle es hören konnten: „Das ist aber eine Freude, lieber Weihnachtsmann, dass Du doch noch vorbeikommen konntest!“ Alle am Tisch schauten verwundert auf. Sofort sprang Julchen, die Jüngste, dem rot gekleideten Gesellen entgegen und umarmte ihn. „Weihnachtsmann, ich freue mich ja so, dass Du da bist!“ Sichtlich gerührt winkte er ab. „Du weißt ja, dass ich mein möglichstes tue.“ Ich konnte seine Stimme immer noch nicht zuordnen. Wer verbarg sich hinter dem Kostüm? 

Mittlerweile waren alle aufgestanden und hatten sich im Halbkreis formiert, während der Weihnachtsmann am Jutesack fingerte. Ich half ihm, denn schließlich kannte ich mich ja aus. Der plötzliche Besuch hatte unseren Tagesablauf tüchtig durcheinander gebracht. So früh war die Bescherung nicht geplant. Ich hatte mir so viel Mühe mit dem Essen gemacht. Nun wurde es kalt. Aber was gibt es denn Schöneres, als ein glückliches Mädchen, das noch an den Weihnachtsmann glaubt. Ich ließ meine Gedanken über mögliche Kandidaten schweifen, doch niemand von denen kam in Frage. Wer war er? 

Die Päckchen wurden verteilt, doch so mancher ging leer aus. Ich wusste warum. Der zweite Sack stand ja noch im Keller. Ich überlegte, wie ich diese kleine Kalamität überwinden konnte. Vielleicht sollte ich den netten Herrn bitten, nochmal nach unten zu gehen?  

Da klopfte es kräftig an der Tür. Meine Güte, wissen die Leute nicht, dass wir eine Klingel haben? Ich riss die Tür auf und erstarrte! Tatsächlich stand dort ein Weihnachtsmann, gleiches Outfit wie der vorherige, mit meinem Jutesack Nr. 2 auf dem Buckel! Ich stotterte: „Was machen Sie denn hier?“ „Ja, ist denn nicht hier die Familie Oswald?“ Die Stimme kam mir bekannt vor, ich konnte sie nur nicht zuordnen. „Doch, aber ich glaube, Sie kommen ungelegen.“ „Ein Weihnachtsmann kommt nie ungelegen!“ meinte er unwirsch, schob mich beiseite und stapfte ins Wohnzimmer. Weihnachtsmann Nr. 1 war gerade im Begriff zu gehen, als er mit seinem Kollegen zusammenstieß. „Was machen Sie denn hier?“ fragte Nummer Zwei. „Nein, andersrum, was machen Sie denn hier?“ konterte Nummer Eins. „Ich war der Erste!“ Ich versuchte zu beschwichtigen. „Meine Herren, das scheint alles ein großer Irrtum zu sein!“ „Ich hatte einen Auftrag!“ Nummer Eins wedelte mit einem Zettel herum. „Und ich brauche keinen Auftrag!“ schrie Nummer Zwei und riss sich die Kapuze mitsamt dem Bart vom Kopf. Ungläubig schauten wir die Gestalt an: Mein Neffe! „Mirko, ich dachte, Du musst arbeiten!“ „Ich wollte Euch überraschen und habe mir extra freigenommen!“ Er wirkte enttäuscht, dass alles ganz anders gekommen war. Doch wer war der andere Weihnachtsmann? Julchen saß im Schneidersitz vor beiden und hatte einen prima Blick von unten. Irgendetwas hatte sie schließlich entdeckt und fragte Nummer Eins scharfsinnig: „Bist Du denn auch kein richtiger Weihnachtsmann?“ Da ließ auch Nummer Eins die Maske fallen. Ein völlig fremder Mann verbarg sich hinter Kapuze und Rauschebart. „Guten Abend! Mein Name ist Frank Hiller. Ich bin von der Weihnachtsmannzentrale vermittelt worden.“ „Ja, aber, wer hat Sie denn beauftragt?“ Da meldete mein Schwiegersohn sich etwas schuldbewusst: „Ich war‘s! Julchen glaubt doch noch an den Weihnachtsmann. Und sie sollte ein letztes Mal das Gefühl haben, dass er wirklich existiert.“ „Ach Papa, ich glaub‘ doch schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann! Als er plötzlich in der Tür stand, habe ich das ganze Theater für Euch mitgemacht!“ Wir starrten sie an. Meine kleine Enkelin hatte uns die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. „Ihr freut Euch doch auch immer, wenn er da ist“, meinte sie und kicherte. Da hatte sie recht. Wir beendeten die Bescherung mit dem zweiten Sack und begaben uns wieder zum Esstisch. Alles war kalt geworden, doch wozu hat man eine Mikrowelle. Ich bat die beiden rotgekleideten Gesellen mit an den Tisch und bald entstand eine gemütliche Tafelrunde. 

Zufrieden über den Verlauf und Ausgang des Tages sinnierte ich über das nächste Weihnachtsfest. Endlich musste ich mir keine Gedanken machen, wer den Weihnachtsmann spielt. 

Ich war mir sicher: So aufregend wie heute, würde Weihnachten nicht noch einmal werden – es sei denn – es sei denn… 

 

DREI Weihnachtsmänner stünden vor der Tür! 

 

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